»Meine eigene Serie« – Teil zwei Eine Kolumne von Ben Calvin Hary über die Exposéarbeit für PERRY RHODAN-Atlantis

24. September 2022

Im August 2022 kam der Roman »Die Advokatin Bukk« von Kai Hirdt in den Handel, der die Bandnummer 3184 trug. Als redaktionelle Beilage enthielt er einen PERRY RHODAN-Report, in dem ein Artikel von Ben Calvin Hary zu lesen war. Der Autor erzählte darin, wie er die Miniserie PERRY RHODAN-Atlantis konzipierte.

Diesen Beitrag dokumentieren wir an dieser Stelle. Wegen seines Umfangs bringen wir ihn in drei Teilen: gestern veröffentlichten wir Teil eins, heute ist der zweite Teil an der Reihe, und morgen folgt der abschließende Teil.

 

Charaktergetriebene Geschichten

Wenn ich Geschichten stricke, dann sind die charaktergetrieben. Sprich: Was die Handlung vorantreibt, sind nicht Ereignisse (das wäre »plotgetrieben«), sondern die inneren und äußeren Konflikte der Figuren. Sind die richtig angelegt und reiben sie sich an den richtigen Stellen, entsteht der Plot, also der Handlungsverlauf, ganz von allein, sobald man sie gegeneinander agieren lässt. Bei einer Heftromanserie ist das eher ungewöhnlich, weil nicht jeder Autor in einem Team jede Figur gleich gut begriffen hat. Dann verhalten sie sich in diesem oder jenem Roman ungewöhnlich und machen das Leseerlebnis kaputt. Aber wenn es richtig gemacht ist, fiebern die Leser umso mehr mit.

Beispiel Caysey: Die Atlanterin ist eine unserer vier Hauptfiguren und begleitet die Helden nicht nur über Atlantis, sondern auch in den Weltraum. Ich meine: Wenn man schon auf dem versunkenen Kontinent unterwegs ist, braucht man auch einen oder eine Einheimische, oder? Jemanden, der oder die den Helden diese fremde Welt zeigen und erklären, aber gleichzeitig anstelle des Lesers die Wunder des Kosmos bestaunen kann.

Literarisch nennt man so etwas eine »Fish-out-of-water«-Figur. Caysey erfüllt diese Funktion. Aber warum ist sie, wie sie ist? Und warum haben wir uns entschieden, sie schwanger sein zu lassen?

Zunächst musste Caysey vom Figuren-Archetyp her eine sogenannte Sanguinikerin sein, also die stets gut gelaunte, sorglose, manchmal etwas einfältige, aber liebenswerte Rolle einnehmen. Diese Charaktereigenschaften waren also gesetzt – wir wussten, wie sie so drauf ist und wie sie tickt.

Warum »musste«? Es gibt vier dieser Archetypen, und die anderen drei waren bereits besetzt. Falls es jemanden interessiert: Rowena = Cholerikerin, Sichu = Melancholikerin, Perry = Phlegmatiker. Alle vier Begriffe sind wohlgemerkt im dramaturgischen Sinn zu verstehen, nicht im modernen, umgangssprachlichen. Ein Phlegmatiker ist hier kein Lahmarsch, sondern ein loyaler Anführer mit starkem Gerechtigkeitssinn.

Ich habe das übrigens nicht erfunden; diese »Vier-Säfte«- oder »Vier-Temperamente-Lehre« ist so alt wie die Literatur. Man findet sie in nahezu jeder fiktiven Vierergruppe wieder, von den Bühnen-Persona der Beatles über die »Hero Turtles« bis zu dem Frauenquartett aus »Sex and the City«. Vom Kenntnisstand der Psychologie her ist das natürlich seit gut zwei Jahrtausenden überholt, aber als Werkzeug im Nähkästchen eines Geschichtenerzählers funktioniert es verblüffend gut.

Und die Schwangerschaft? Der Totgebärer-Fluch? Caysey brauchte einen triftigen Grund, ihre Heimat zu verlassen und sich zwei Weltraumfahrern aus der Zukunft anzuschließen. Mir war außerdem wichtig, dass sie dabei selbstlos handelt. Der naheliegende Gedanke wäre natürlich eine Krankheit gewesen, zu der nur die Arkoniden ein Heilmittel haben, aber das schied aus obengenanntem Grund aus. Ein Held, dem es nur drum geht, seinen eigenen Allerwertesten zu retten, ist in meinen Augen kein großer Sympathieträger. Bei mir tun so etwas nur Bösewichte.

Cayseys Mission musste also dazu dienen, jemand anderen zu retten. Was also, wenn nicht sie das Heilmittel braucht, sondern ihr kranker Nachwuchs? Zwei Probleme gab es mit dieser Konstruktion: Welche Mutter lässt ihr sterbendes Kind einfach zu Hause zurück, während sie in der Weltgeschichte umherirrt? Warum nimmt sie es nicht mit, und was sagt das über sie als Charakter aus? Zweitens erinnerte das zu sehr an Mahlia Meyun aus den beiden »Mission-SOL«-Miniserien, die einen vergleichbaren Hintergrund hatte.

Aber was, wenn die Reise an sich dem Schutz des Kinds dient? Wenn sie keine andere Wahl hat, als ihr Dorf zu verlassen? Das war die Lösung, und zehn Minuten nach diesem Gedankengang waren der Totgebärer-Fluch und Cayseys verzweifelte Odyssee geboren. Natürlich musste für diese Queste zum Ende eine Auflösung her, die im Dienst der Geschichte steht. Den Fluch also in den Komplex um das Talagon einzubinden und zum Teil der Lösung zu machen, lag auf der Hand.

Wenn ein Rahmen gut konzipiert ist, alle Elemente am rechten Ort liegen und in sich funktionieren, erzählt die Geschichte sich quasi von selbst. Du als Autor musst sie nur noch beobachten und aufschreiben.

 

Ben Calvin Hary

Atlantis 1: Im Land der Sternengötter
Ben Calvin Hary
PERRY RHODAN DIGITAL
ISBN/EAN: 9783845351612
1,99 €
(inkl. MwSt.)
Download
In den Warenkorb
Atlantis 1: Im Land der Sternengötter
Ben Calvin Hary
Pabel Moewig Verlag KG
ISBN/EAN: 9999900007671